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Ich lebe: Person - Persönlichkeit

Reihe von Dr. med. Tönet Töndury / Herbst 2002

Sprechen wir von einer "Person" so hat das etwas Abwertendes. Sprechen wir von einer "Persönlichkeit", so schwingt ein Unterton der Anerkennung und des Respektes mit. Eine Persönlichkeit ist also mehr als eine Person. Person und Persönlichkeit - bei beiden handelt es sich um die gleichen Menschen. Wie aber kommt die Unterscheidung zustande?

Vieles liegt im Sprachgebrauch.

Eine Person ist anonym, deshalb verwenden wir den Begriff oft in der Mehrzahl: Personen. Wir kennen sie nicht, aber sie sind zur gleichen Zeit am gleichen Ort: Viele Personen haben die Expo 02 besucht. Nur die Menge wird angedeutet, die einzelne Person ist nicht von Interesse. Wir könnten auch sagen: Auf dem Zürichsee gibt es viele Schwäne. Oder die Personen weisen eine gleiche Eigenschaft auf: Die Schwarzen (Personen) haben dunkle Haare - abgesehen davon dass diese Behauptung falsch ist, interessiert nur die Haarfarbe, das Individuum unter dem schwarzen Haar berührt uns nicht. Wir könnten auch sagen: Raben sind schwarz. Oder die Personen gehen alle der gleichen Tätigkeit nach: Die Gäste (Personen) sind beim Essen. Nur die Tätigkeit des Essens macht die Gäste erwähnenswert. Dass sie verschiedene Geschmäcker haben und deshalb verschiedenen Speisen den Vorzug geben, tut nichts zur Sache. Man könnte auch sagen: Schweine schmatzen beim Fressen. 

Eine Person hat weder Namen noch Charakter.

Solche pauschalen Feststellungen machen aus den Menschen namen- und charakterlose Personen, Objekte unserer Betrachtung, unseres momentanen Interessens. Wir nehmen einen einzelnen Menschen, reduzieren ihn auf ein einziges Kriterium und pauschalieren ihn durch Gleichsetzung: T. ist ein Eso. Wir schmeissen ihn in die Schublade der Esoteriker und sprechen ihm damit seine Individualität ab. Für ihn gelten alle positiven oder negativen Vorurteile, die wir mit dem Begriff "Esoteriker" verbinden, eine andere Beurteilung interessiert uns nicht. Ständig verfallen wir der Versuchung der Pauschalierung, der Ent-Individualisierung: Es sitzt eben eine Frau am Steuer. Er gehört halt zu den Superreichen. Sie ist natürlich eine Alleinerziehende. Er ist bestimmt ein Linker. "eben", "halt", "natürlich", "bestimmt" - typische Worte, die auf unser undifferenziertes Vorurteil hinweisen. Es gibt viele Schubladen, in denen wir Mitmenschen versorgen. Sind sie einmal versorgt, so brauchen wir uns mit ihnen nicht näher zu befassen. Wir wissen von ihnen, was unserem Zwecke dient. Indem wir aber Menschen schubladisieren, machen wir aus der Persönlichkeit eine Person, wir nehmen ihm die Identität, die Individualität, seinen komplexen Charakter. 

Unser (Vor-)Urteil macht aus der Person eine Un-Person.

Wenn wir zudem die Schublade mit negativen Vorstellungen, Vorurteilen, Erfahrungen in Verbindungbringen, wird aus der Person sogar eine Un-Person, die abgetan, auf die gar nicht weiter eingegangen sein will. Harmlos: Blondinen, Bünzli, Mantafahrer. Diskriminierend: Arbeitslose, Künstler, Süchtige. Fatal: Nazi, Kriegsverbrecher, Kapitalist. Die ständigen Konflikte von den Religionskriegen über die ethnischen Auseinandersetzungen bis hin zur Bekämpfung der "Achsen des Bösen" entspringen diesen Pauschalierungen. Die Pauschalierung macht Kriege, ethnische Säuberungen, Flächenbombardements erst möglich, weil Grausamkeit und Intoleranz nur gegenüber Menschen möglich sind, die kein eigenes Gesicht haben, die zu einer unpersönliche, von einem einzigen Merkmal geprägten Masse gehören - zu einer Herde Rinder, die in den Schlachthof geführt wird. Für den Metzger handelt es sich um gemästetes Schlachtvieh, das effizient und ohne einen Anflug von Emotion dem Konsum zugeführt werden muss. Kennt der Metzger jedes Rind mit Namen und Lebensumständen, verliert es für ihn das Pauschalkriterium vom gemästeten Schlachtvieh, er kann die Massenschlachtung nicht mehr vornehmen, weil er jedem Tier als Individuum, mit Achtung begegnen muss.

Auch das Idol ist nur eine Person.

Natürlich dienen unsere Schubladen nicht nur dem Versorgen von Menschen unter dem Gesichtspunkt negativer Pauschalurteile, sie dienen auch der Zuordnung von Mitmenschen zu unseren positiven Wunschbildern. Wir machen aus ihnen ein Idol, und die Idolisierung ist genau so ein undifferenziertes Pauschalurteil. Die Person wird auf ein Bild reduziert, das keine Fehler, keine Schwächen, keine Gewöhnlichkeit zeigt: Der bewunderte Künstler, der allem Irdischen, Banalen entrückt ist, die Inkarnation der reinen geistigen Kreativität darstellt. Der Millionär, der als Schuhputzer angefangen und durch hartnäckige und redliche Arbeit sein Vermögen geschaffen hat. Die Mutter, die selbstlos und ohne Reue immer nur für Mann und Kinder da ist. Die Grossmutter, die immer Zeit hat und eine Atmosphäre von Zufriedenheit und Lebensweisheit ausstrahlt. Die Leserin kann hier über ihre, der Leser über seine Idole nachdenken. 

Wir müssen uns der Person so weit annähern, bis wir ihre Persönlichkeit erkennen. 

Wir tun unseren Idolen Unrecht, denn auch sie sind eitel, haben ihre Launen, ihre biologische Banalität, ihre Fehler und Schwächen. Die persönliche Begegnung mit dem Idol ist deshalb immer eine Enttäuschung unserer schemenhaften, pauschalen Erwartung. Aus der Nähe betrachtet ist das Idol sehr "gewöhnlich", es ist vielleicht eitel bezüglich seiner Fähigkeiten, gleichgültig gegenüber seinen Mitmenschen, rücksichtslos gegenüber der Natur, kosmetisch zum "good looking star" aufgemotzt. Wir schätzen diese Eigenschaften nicht, sie passen nicht in unsere Schublade, in der nur Glänzendes, Makelloses versorgt ist. Aber sie tragen dazu bei, dass wir das Idol als die Persönlichkeit erkennen können, die sich aus den körperlichen und seelischen Eigenschaften entwickelt hat, die von der gesellschaftlichen und geografischen Mitwelt geprägt worden ist, und die ihre Lebendigkeit und ihre Liebenswertigkeit durch die Geistige Verbindung erhält. Das Idol verliert den Glanz des Ausserordentlichen, der Glanz weicht den lebendigen Schattierungen seiner Persönlichkeit. Wir sind enttäuscht, wenn wir lesen, dass Albert Schweizer persönliche empfindlich und autoritär war, seine Familie vernachlässigte, und dass er seinem Spital in Lambarene aus Starrsinn die Weiterentwicklung therapeutischer Möglichkeiten vorenthielt. Dabei sind es gerade diese Eigenschaften, die ihm sein Wirken in Afrika erst möglich machten, ein empfindsamer Familienvater ohne Durchsetzungswillen und Beharrungsvermögen hätte das nie geschafft.

Auch die Un-Person wird "gewöhnlich", wenn wir sie aus der Schublade nehmen und ihr die eigene Individualität zugestehen, Eigenschaften an ihr erkennen und zulassen, die wir schätzen, aber mit unserem pauschalen Bild nicht in vereinbaren wollen oder können: Freundlichkeit, Klugheit, Geselligkeit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit. So macht es zum Beispiel Mühe, dass sich S. Milosevic vor dem Haager Tribunal selber verteidigt und nicht in der Anonymität des schweigenden Angeklagten bleibt. Er erweist sich als klug, schlagfertig, hartnäckig, seelisch und körperlich stark und ungebrochen - so stelle ich mir einen Verbrecher gegen die Menschlichkeit nicht vor. Wegen dieser Eigenschaften aber ist er der Führer seines Volkes geworden. 

Jeder Mensch ist seine Persönlichkeit.

Idol und (Un-)Person - in beiden Fällen berauben wir einen Menschen seiner Persönlichkeit, seiner Einmaligkeit. Wir reissen ihn aus dem Zusammenhang mit seiner gesellschaftlichen und geografischen Mitwelt, wir ignorieren seine einzigartige Seele, wir übersehen seine körperlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse, wir missachten sogar seine Verbindung zur Geistigen Welt. Jeder Mensch hat den Anspruch, dass wir ihn aus der Anonymität der Nur-Person herausheben und die Einzigartigkeit seiner Persönlichkeit suchen und ohne (Vor-) Urteil anerkennen. Er wird zum Spiegel, in dem wir Teile unserer eigenen Persönlichkeit sehen und besser kennen lernen können. Dadurch werden wir - die Betrachter und die Betrachteten - gleichwertig, jeder sein ganz spezieller Stein im Puzzle der Menschheit, ohne den dieses Puzzle unvollständig wäre. Das ist Sinn und Inhalt der Persönlichkeitsschulung: Sie beginnt mit der urteilsfreien Anerkennung der Identität und der Individualität jedes Mitmenschen. Daraus entwickelt sich die Selbsterkennung und die Selbstannahme: Ich bin der "ICH BIN".

von Dr. med. Tönet Töndury

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